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Das Ziel der philosophischen Lebensführung ist nicht zu formulieren als ein Zustand, der erreichbar und dann vollendet wäre. Unsere Zustände sind nur die Erscheinung des ständigen Bemühens unserer Existenz oder ihres Versagens. Unser Wesen ist Auf-dem- Wege-Sein. Wir möchten durchstoßen durch die Zeit. Das ist nur in Polaritäten möglich: Nur ganz in dieser Zeit unserer Geschichtlichkeit existierend erfahren wir etwas von ewiger Gegenwart. Nur als je bestimmter Mensch in dieser Gestalt werden wir des Menschseins schlechthin gewiß. Nur wenn wir das eigene Zeitalter als unsere umgreifende Wirklichkeit erfahren, können wir dieses Zeitalter im Einen der Geschichte ergreifen und in dieser die Ewigkeit. Im Aufschwung berühren wir hinter unseren Zuständen den heller werdenden Ursprung, aber in ständiger Gefahr der Verdunkelung. Die philosophische Situation in der Zeit sei . . . im Gleichnis charakterisiert: Nachdem der Philosoph auf dem sicheren Boden des Festlandes - in realistischer Erfahrung, in Einzelwissenschaften, in Kategorien- und Methodenlehre - sich orientiert und an den Grenzen dieses Landes die Welt der Ideen in ruhigen Bahnen durchlaufen hat, flattert er schließlich am Gestade des Ozeans wie ein Schmetterling, hinausdrängend auf das Wasser, erspähend ein Schiff, mit dem er auf die Entdeckungsreise fahren möchte zur Erforschung des Einen, das als Transzendenz ihm in seiner Existenz gegenwärtig ist. Er späht nach dem Schiffe - der Methode des philosophischen Denkens und der philosophischen Lebensführung -‚ dem Schiff, das er sieht und doch nicht endgültig erreicht hat, so müht er sich und macht vielleicht die wunderlichsten Taumelbewegungen. Wir sind solche Falter, und wir sind verloren, wenn wir die Orientierung am festen Lande aufgeben. Aber wir sind nicht zufrieden, dort zu bleiben. Darum ist unser Flattern so unsicher und vielleicht so lächerlich für die, die auf dem festen Lande sicher sitzen und befriedigt sind, nur begreiflich für jene, die die Unruhe erfaßt hat. Ihnen wird die Welt zum Ausgangspunkt für jenen Flug, auf den alles ankommt, den jeder aus eigenem antreten und in Gemeinschaft wagen muß, und der als solcher nie Gegenstand einer eigentlichen Lehre werden kann.

Philosophische Lebensführung: Karl Jaspers